Das weibliche Territorium der Justine Otto
Prof. Dr. Jean Christophe Ammann, Katalogtext helter skelter
Mädchen, Frauen und Tiere bevölkern die Welt von Justine Otto. Der malerische Duktus ist gnadenlos, die Kälte brutal. Auch wenn die Landschaft grünt, liegt die Temperatur bei der Null Grad Grenze. Der metallische Schein, der die Bilder kennzeichnet, macht die Protagonistinnen zu Wesen, denen nichts, aber auch gar nichts, fremd ist. Sie verorten ihre Handlungen mit Neugier, quälend, vielleicht auch sadistisch, stets aber rätselhaft in einem Niemandsland, dem die Himmelsrichtungen fehlen. – Insofern ergibt sich eine bemerkenswerte Kongruenz zwischen Malerei und Inhalt: Die Malerei generiert die emotionale, sezierende Unterkühlung der weiblichen Figuren bis hin zur Aggressivität der Tiere. Die Figuren ihrerseits reflektieren im Zusammenspiel ein die Handlung bestimmendes Begehren. Das Rätselhafte dieser Handlungen sind Sondierungen im Schattenbereich, die der Erfahrung eines „unheimlichen“ Wissens alchemistische Züge verleihen. Die Erfahrung des Wissens ist polymorph-pervers vorhanden, mäandert durch die Mutation der Organe und Gefühle. Die voyeuristische Neugier entspricht einer Begutachtung der eigenen Triebe.
Justine Ottos Bilder – wie verschiedentlich geäußert – als surrealistisch zu bezeichnen, wäre eine dramatische Verharmlosung.
Diese Bilder sind brandgefährlich: Es gab eine Zeit, da tauchten die Zombies auf, als Schatten unserer kollektiven Vergangenheit, aus einem unerlösten Jenseits. Heute schaffen wir – und Justine Otto im Besonderen – die Zombies selbst, schattenlos, aus der Projektion unseres vereinsamten Selbst, aufgeladen mit einer künstlichen Identität, gekoppelt mit Fantasien der Allmacht und des Glücks. – Man könnte dies Realitätsverlust nennen. Aber davon spricht Justine Otto nicht. Sie spricht von der Realität eines Realitätsverlusts. „Märchen sind wahr“, sagt die Künstlerin. Was sie tut ist eine Verschärfung des Märchens unter Wahrnehmungsbedingungen einer die Realitätsebenen verwischenden Medialisierung.
In der Härte ihrer Bilder, in deren Unerbittlichkeit, schafft Justine Otto eine Realität, die weder überzogen noch pathetisch ist, sondern kalt den Nerv einer Gegenwart trifft, in der die Gegensätze eingeebnet sind oder explodieren. In der die Erotik dieser Gegensätze sich dehnt, verkümmert, travestiert oder fetischisiert.
Schauen wir uns einige ihrer Bilder an. – In "Dogs of Democracy" (2007, 154 x 200 cm) kniet ein Mädchen, so scheint es, auf einer toten Dogge und schneidet ihr mit einer Schere den Rücken auf. Es trägt Shorts, ein T-Shirt, Kopfhörer. Die Musik dient der Konzentration, denn es ist von einem Rudel von Doggen umgeben, neben ihr fletscht eine furchterregend die Zähne. Das Gemälde hieß ursprünglich „Die Geburt“, und zeigt einen Vorgang, der diametral der ersten Betrachtung widerspricht. Indem das Mädchen aufmerksam die Form des am Boden liegenden Hundes ausschneidet, ruft sie das Tier ins Leben. Damit wird ein Schöpfungsmythos angesprochen. Welt und Gegenwelt treffen in einer Symbiose aufeinander. Platons Höhlengleichnis klingt an. Das Mädchen sieht friedlich aus. Offenbar hat es das gesamte Rudel geschaffen. Nur, was wird die Meute anrichten? Wohin führt ihre Blutspur? Hört das Mädchen Musik, oder folgt es den Anweisungen einer verruchten Stimme. Erschafft es oder hat es einen Zerstörungsauftrag?
Das Gemälde „Drama & Caruzo” (2008, 200 x 114 cm) zeigt eine Jugendliche, die liebevoll Vögel fängt. Sie durchsticht die Leiber, hängt sie sich an einem Faden um den Hals – (leben die Tiere noch?). Sie tut etwas Grausames. Kinder können so etwas tun, als wären sie fremdbestimmt. Die telekinetischen Kräfte der jungen Carrie im gleichnamigen Roman von Stephen King (1973) richten ein Blutbad an. Das Mädchen in Roman Polanskis Film „Rosemaries Baby“ (1968) gibt mit grünem Schaum vor dem Mund und veränderter Stimme Obszönitäten von sich, und Flora in Henry James "The Turn of the Screw" (1898) sagt Dinge, die ihrem unschuldigen Alter ein Dorn im Auge sind.
Jedoch ist das Mädchen hier kein Kind. Justine Otto geht einen Schritt weiter. Die Perversität mutiert zum zärtlichen Liebesakt, wie die Gottesanbeterin, Mantis religiosa, die dem Männchen bei der Begattung den Kopf abbeißt, damit der Samen besser fließt. Das klägliche Zwitschern der durchbohrten Vögel, ihr sterbender Flügelschlag ist – vorstellbar – auch der akustische Schmuck von Lust und Pein.
In „Lonestar“ (2009, 160 x 130 cm) hält ein Mädchen auf Brusthöhe die Hände wie Schalen vor sich. Der abgewinkelte Daumen rechts gleicht dem Kopf eines Dildos. Der Blick des Mädchens führt voller Erwartung und Hingabe steil nach oben. So stelle ich mir die Heilige Teresa von Avila vor, als sich die Wundmerkmale in ihren Händen bildeten. Das Hoffen und Sehnen erfüllt sich, an einigen Fingern wachsen lange, rote, verführerische Fingernägel. Das Mädchen mutiert zur Frau, nicht wissend, dass der Himmlische Bräutigam weiblicher Natur, oder von weiblicher Energie beseelt ist.
Die beiden Frauen im Gemälde „Und wenn die Sonne untergeht, strahlen nur noch sie allein“ (2009, 132 x 90 cm) beobachten aufmerksam ihr Werk: Die Mutation von Hasen in Wölfe. Die Köpfe der Tiere ragen aus Behältern, in denen die Körper durch die genetische Trommel gewirbelt wurden. Das Antlitz der Frauen ist stren:. Trainierte, joggende Wissenschaftlerinnen ohne Charisma.
Die Mutation ist ein Thema, natürlich auch eine Metapher. Die Vogelfrau mit Flügeln und einem Vogel auf der Schulter – sie besitzt ein ausgeglichenes Profil – erblickt im Spiegel die tierhafte Veränderung ihrer Mundpartie. Die dissoziierte Identität des Menschen, das Wegdriften von Beziehungsmustern in eine digitale Welt ist Teil des Mutierens. („Vogelfrau“, 2007, 114 x 180 cm).
Das alt aussehende Mädchen in „Willst du mit mir gehen, ja, nein, vielleicht“ (2008, 200 x 150 cm) trägt eine weißblonde Perücke mit bis zu den Hüften reichenden Haaren. Neben ihr verbeißen sich Hyänen oder Wölfe ineinander. Im Hintergrund lauern Hunde. Will das Mädchen jünger aussehen? Will es eine Lolita sein? Vielleicht hat das Mädchen andere Absichten, als die Frage, die es im Titel der Arbeit äußert. Ist es der Wolf im „Rotkäppchen“?
Es sind Sinnzusammenhänge, die auseinanderbrechen, sich transformieren, ohne dass die Protagonisten, so scheint es, sich dessen bewusst sind. Justine Otto erwähnte die Märchen. Deren polymorphe Perversität ist eine bis heute andauernde Fundgrube. Und gerade deshalb ist es wichtig, stets die Malerei im Auge zu behalten, den Bildaufbau, die Bildfindung.
In „Schattenlinie“ (2009, 240 x 150 cm) gibt es ein Oben und ein Unten. Vier mit kurzen, weißen Röcken bekleidete und bekränzte Mädchen feiern das Maifest. An einem großen Baumstamm (Maibaum) sind farbige Bänder befestigt. Sie hängen ins offene Erdreich in dem die Wurzeln sichtbar sind. Drei Hunde, davon erkennbar eine Hündin, haben sich an den Bändern festgebissen. Die Mädchen lassen sie wie Marionetten tanzen. Eines schaut aus dem Bild, lässt den Betrachter bewusst an dem Spektakel teilnehmen. Jenes, angeschnitten, am Bildrand links, trägt einen über den Ellbogen führenden roten Handschuh. An dem Band, das das Mädchen hält, hängt die Hündin. Die Farbe Rot meint in der Sprache des Märchens Blut, Leidenschaft, Sexualität. Hier gleicht die Situation dem Schlossfräulein, das aus dem Turmfenster ein Seil herunterlässt an dem der Verehrer heraufzuklettern sucht. – Das Bild zu deuten ist schwierig. Sind die Hunde das Alter Ego der Mädchen? Sind die Hunde eine Metapher für das Begehren mit dem die Mädchen umworben werden? Spielen sie mit diesem Begehren ein wissendes, durchtriebenes Spiel? Die Hunde, das ist offensichtlich, kommen nicht hoch. Sollten sie vor Erschöpfung in den Abgrund stürzen, wären das Kichern und das glockenhelle Lachen der Mädchen zu hören.
Drei Frauen, wie Laborantinnen bekleidet, sind in „Zeit für Plan b“ (2009, 200 x 200 cm) mit einem überdimensionierten Stechapfel beschäftigt. Er wächst aus einem Aquarium ähnlichen Glasbehälter. Sechs Trockenhauben an Gestängen befestigt und in verschiedene Richtungen weisend, spenden Wärme. Zwei am Boden liegende Steuerungsgeräte, von der einen Frau bedient, scheinen das rapide Wachstum des Stechapfels mitzubeeinflussen. Vom Stechapfel weiß man, dass er hochgiftig ist, dass er im späten Mittelalter zu Hexensalben und Zaubertränken verarbeitet wurde, und erst im 18. Jahrhundert medizinischen Zwecken diente.
Der Stechapfel im Gemälde von Justine Otto ist bei entsprechendem Umfang mindestens dreißig Zentimeter hoch. Zu welchem Zweck? Was führen die Frauen im Schilde?
Was bewegt die Frauen in „Helter Skelter“ (2010, 150 x 220 cm)? Der Raum zeigt das Innere einer Fellfabrik. Die beiden Frauen mit kurzen roten Röcken sitzen auf einem Podest. Die eine trägt Handschuhe, hält einen Boxer an der Leine. Mit der anderen lässt sie Fellknäuel am Band kreisen. Sie ist betont androgyn. Ihr Antlitz ist männlich. Die Füße stecken in Schuhen mit hohen Absätzen. Die andere Frau, feminin, die offene Bluse ist nur mittig geknöpft, schaut auf eine Dreiecktafel von der rote Farbe herabrinnt. Justine Otto spricht von Komplizinnen. Das mag so sein. Aber da ist noch mehr, die Beziehung geht tiefer. So sagt es das Bild.
So auch in „Wer nie sein Brot im Feinripp aß“ (2009, 150 x 220 cm). Ein blutiger Tierschädel liegt auf dem Tisch. Eine Frau im Gartenstuhl hat ihre überkreuzten Füße draufgelegt. Eine andere Frau, sie scheint etwas älter zu sein, bietet ihr auf einem Spieß ein Stück Fleisch an. Das Gesicht der Frau im Gartenstuhl zeigt Befremdung. Dieses Fleischstück, der auffordernde Blick, der etwas älteren Frau hat unausgesprochen Macht über sie, eine emotionale Macht. Das rohe Stück Fleisch ist ein Zeichen und Symbol: Transubstantiation.
Eine Beziehung dieser Art findet sich auch in “Touch of Scham and Hair“ (2009, 107 x 160 cm). Im Vordergrund findet sich rechts ein blutiger Tierschädel, in dem steil eine Gabel steckt. Links befindet sich eine Glasschale mit Äpfeln und Trauben. Dahinter lagern zwei Frauen, Kopf an Kopf, wie in einem antiken Gelage. Der Blick geht von den roten Äpfeln unter den hochgeschobenen Rock, der sich anschmiegenden Frau zur linken Hand. Die beiden Frauen unterscheiden sich nicht im Alter. Jedoch scheint mir jene, rechts hinter dem Tierkopf, bestimmender zu sein. Sie braucht nur den Arm auszustrecken, und hat den aus Horn geschnitzten Griff der Gabel in der Hand. Über beiden Frauen schwebt leicht asymmetrisch, mitten in kahlen Stämmen, ein glitzernder Kronleuchter, so wie tausend sirrende Hochzeitsglöckchen.
Immer wieder sind es Frauen, die in einer subkutan geteilten Erotik, die Verführung als Waffe getarnt, den Spin des Schicksalsfadens umpolen.
Vielleicht ist „Mikrosteria“ (2008, 220 x 150 cm) ein Schlüsselbild. Im Inneren eines Bauwagens sind Vogelhäuschen verschiedener Größe und Bauart chaotisch übereinander getürmt. Der Blick geht vom hinteren Ende des Bauwagens zum gegenüberliegenden Fenster. Eine Frau, dezidiert im Aussehen, schmeißt ein weiteres Vögelhäuschen ins Innere. Ihr Antlitz hat etwas Maskulines. Die Frau raubt den Vögeln das von Menschen gezimmerte Zuhause. – Zum einen inkrimiert Justine Otto das Tun der Frau. Zum anderen gibt sie ihr möglicherweise Recht. Denn Vögel brauchen keine Häuschen. Sie bauen sich ihre Nester, eine Vermenschlichung tierischen Verhaltens – (So denkt wohl die Frau im Bild.)
Wie dem auch sei. Justine Otto lässt stets alles offen. Eine Gratwanderung ist es dennoch nicht. Der „Gedächtnisverlust“ ist zu offensichtlich, die Handlungen sind teils zu monströs. Im Seelenloch amalgamieren sich Albträume mit der malerischen Wucht eines Haudegens.
PS: Ohne das intensive, vierstündige Gespräch mit Justine Otto, am 19. Juli 2011 wäre dieser Text nicht möglich gewesen.
Jean-Christophe Ammann